Der kleine Junge hatte einen Freund. Sie mußten beide wohl gleichaltrig gewesen sein, aber ich bin mir nicht sicher, ob man sieben Menschenjahre mit dem Alter eines Bären gleichsetzen kann. Das Besondere daran war, daß der kleine Junge seinen Freund selbst erfunden hatte. In einem kleinen blauen Schulheft schrieb er, kaum daß er Lesen und Schreiben gelernt hatte, Bumbums für ihn erträumte Abenteuer auf.
Fast zwanzig Jahre danach sitze ich in meiner Großstadtwohnung und versuche, mich zu erinnern. Für einen Augenblick erscheint es mir lächerlich, denn es konnten wohl keine großartigen Erlebnisse gewesen sein, die der kleine Junge damals aufgeschrieben hatte. Plötzlich ist mir, als hätte soeben der erwachsene Dummkopf in mir gesprochen. Nein, wenn ich an Bumbum denke, dann nur als kleiner Junge, fühle ich wieder wie ein Kind und wünsche mir, nichts anderes zu sein. Die Freundschaft der beiden währte nur sehr kurz. Ich würde es nicht fertigbringen, Bumbum mit anderen Augen zu sehen als mit jenen des kleinen Jungen, der sich nachmittags im Hochsommer in die Küche des Elternhauses setzte, die Vorhänge zuzog, um von der Sonne nicht geblendet zu werden, und die bunten Bilder seiner regen Phantasie beschrieb, während er ganz vergaß, auf die Grundhaltung seines Füllfederhalters zu achten. Bumbums Griff in die Bienenwaben war aber auch zu aufregend, um sich noch mit unliebsamen Nebensächlichkeiten befassen zu können.
Die Bienen! Sie stachen zu!
Der kleine Junge schrieb schneller.
Bumbums rotbraun behaarter Arm schwoll an und wurde dicker und dicker.
Die Hände des kleinen Jungen wurden feucht.
»Lauf doch, Bumbum, lauf doch!«
Am liebsten wäre der kleine Junge dabeigewesen, um seinem Freund zu helfen. Weshalb eigentlich hatte er sich nicht selbst in der Geschichte mitspielen lassen? Er und Bumbum – ein unschlagbares Team. Von Äußerlichkeiten abgesehen, waren sie sich doch im Herzen nur allzu ähnlich. Zusammen hätten sie noch aufregendere Abenteuer erlebt, als der kleine Junge sie je hätte erzählen können.
Mein Blick fällt auf die Pinnwand über meinem Schreibtisch. Ich sehe mich auf einer Photographie, welche etwa ein Jahr alt sein dürfte. Ich trage bereits einen Bart, einen rotbraunen Vollbart.
Gereizt nehme ich das Bild ab und schließe es in die Schublade. Ist es wirklich so schwer, sich an die Kindheit zurückzuerinnern?
Langsam, ganz langsam... Fahles Licht... Regentage... Sonnenschein...
Das Haus der Eltern... Der Garten... im Sommer...
Jemand ruft nach der Mutter. Ich drehe mich um.
Der kleine Junge humpelt barfuß durchs Gras. Er weint.
Die Mutter kommt in den Garten gelaufen.
»Eine Biene hat mich gestochen!«
»Komm ins Haus. Wir legen eine rohe Zwiebel darauf. Das hilft.«
»Nein! Es tut so weh...«
Die Mutter nimmt den kleinen Jungen an die Hand und geht mit ihm die Veranda hoch und ins Haus zurück.
Ich blicke mich um. Der Garten. Dahinter Felder und Äcker. Im Hintergrund zwei kleine Dörfer. Ich erkenne sie an ihren Kirchturmspitzen. Das eine Dorf heißt Steinkirchen. Das andere... Ich hab’s vergessen.
Der Garten! Spielplatz der Kindheit. Gemüsebeete; Himbeersträucher und schwarze und rote Johannisbeeren vor einem Maschendrahtzaun, dahinter eine kleine Böschung, mit einigen hohen Birken bepflanzt, und dann die Felder und Äcker; und vor den Sträuchern zwei mächtige Kirschbäume.
Ein Gartenstuhl steht darunter, halb von der Sonne beschienen.
Die Sonne! Der kleine Junge wurde wohl von ihr geblendet, und da ist er aufgestanden, barfuß, um den Stuhl ein wenig in den Schatten zu rücken.
Bienen lieben die Sonne.
Der kleine Junge liebte sie auch, aber nur, wenn er im Schatten war.
Ein Märchenbuch liegt im Gartenstuhl. Grimms Märchen. Erinnerungen werden wach, wenn auch nur schattenhaft.
Märchenwelt! Spiegelbild manch zarter Kinderseele. All die Erzählungen über Riesen und Könige und Prinzen und Wölfe und Geißlein.
Und niemals über den Erzähler selbst.
Der kleine Junge hatte bis dahin noch nichts anderes gelesen als Märchen. Er liebte sie alle, kannte viele auswendig, aber keines war, so fällt mir plötzlich ein, in der Ich-Form geschrieben. Ganz offensichtlich war dies der Grund, weshalb der kleine Junge Bumbums Abenteuer nur in Gedanken miterleben konnte. Er hatte noch nicht gelernt, mit »Ich« zu beginnen.
Sicherlich hatte er das erste Kapitel mit den Worten »Es war einmal...« eingeleitet; grimmig niedergeschrieben, unbewußt enttäuscht darüber, neben all der beschriebenen Wirklichkeit von einer Ersatzfigur erzählen zu müssen, und dennoch aufgeregt vor Reisefieber, wie Bumbums Fahrt durchs Reich der Phantasie wohl ausgehen mochte.
Sollte es mir etwa möglich sein, nach so vielen Jahren einige Zeilen der Geschichte des kleinen Jungen wiedergeben zu können?
Bunte, verschwommene Bilder ziehen über den freien Flecken auf der Pinnwand. Bald glaube ich, die liebliche Stimme des kleinen Jungen zu hören, doch ich kann nicht verstehen, was er spricht.
Nein, es gelingt mir nicht. Zwar weiß ich noch ungefähr den Inhalt einiger Kapitel, doch habe ich als erwachsener Dummkopf verlernt, wie der kleine Junge zu denken. Nur noch äußerst selten fahre ich nach Hause zurück, wo er und Bumbum einst gelebt hatten. Das blaue Schulheft jedoch ist mir allzu früh verlorengegangen.
Keinen der beiden habe ich bislang wiederfinden können...
© 2006 by Hank Blöchinger